Was ist ein Gamergate?

„SJW“ – Ein Wort, viele Reaktionen.


Die am meisten gehörte Reaktion in der heutigen Zeit ist vermutlich negativ. SJWs sind fürchterliche Menschen, laut, nervig, arrogant, voreingenommen, sie befürworten Zensur und verschließen die Ohren vor allen, die nicht ihrer Meinung sind. Das ist das landläufige Verständnis des Terminus in der Nische der Videogame-Communities und weiteren Randgruppen, die sozialpolitische Themen entweder behandeln oder „aufgedrückt“ bekommen. Und allein in diesem Absatz stecken schon so viele Problematiken, dass ich kaum weiß, wie ich weitermachen soll. Also fangen wir bei der Grundfrage an.

Was heißt „SJW“? Easy, „Social Justice Warrior“. Das weiß man. Übersetzen wir diesen Ausdruck direkt: Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Klingt ja gar nicht so übel, eigentlich. Soziale Gerechtigkeit, Fairness in grundsätzlichen Lebenssituationen, Gleichberechtigung und der Willen, sich dafür einzusetzen. Wo ist nun das Problem?

Eigentlich sollte dieser Text damit schon gegessen sein, aber leider sieht die Realität anders aus. Der Ausdruck „SJW“ ist als Beleidigung kreiert und durchgesetzt worden. Nicht von eben diesen selbsternannten Kriegern der Gerechtigkeit, natürlich nicht. Von GamerGate. Von Videospiele-Fans. Von rechten bis rechtsradikalen Persönlichkeiten der aktuellen Internet-Ära. Von Gegnern des modernen Feminismus ebenso wie Gegnern von.. naja, Frauen. Und Men’s Right-Aktivisten. Und, und, und.

Unglaublicherweise vereint ausgerechnet der diktierte Hass gegen „Political Correctness“ und das scheinbar offensichtliche Problem mit dessen Befürwortern waschechte Nazis, gefährliche und harmlose Internettrolle sowie durchaus selbstreflektierende Gamer auf einer Ebene, derer sich etliche der angesprochenen Gruppen überhaupt nicht bewusst sind.

Oh, na sowas. Ein weiterer Absatz voller Ansatzpunkte, die ihrerseits einen ellenlangen Text herausfordern. Chronologisch – zumindest im Bezug auf Videogames im weitesten Sinne – fängt die ganze Geschichte wohl mit einer der größten Schaumschlägereien der jüngeren Videospielekulturgeschichte an: GamerGate.

Was ist ein Gamergate

Zoë Quinn’s Einstieg in die Welt der Videospiele bestand in der Zeitschrift „Nintendo Power“ – eine eigene Konsole hatte sie nicht. Sie bestaunte die Screenshots und insbesondere die Karten und Hilfestellungen zu Spielen, die sie nicht besaß. Erst 1999, mit 12 Jahren, fand ihr Vater für sie ein gebrauchtes 3DO auf einem Flohmarkt. Endlich konnte auch Zoë ihr eigenes Joypad in der Hand halten.

Einer unbeschwerten Kindheit stand dennoch eine Kleinigkeit im Wege: Quinn wurde bereits im Alter von 14 als depressiv diagnostiziert und trotz beständiger Suizidgefahr erhielt sie wenig Unterstützung oder Verständnis von Freunden oder offiziellen Stellen. Doch sie hielt durch. Mit 24 zog sie aus den USA nach Toronto, und lernte die dortige Indie-Dev-Szene kennen. Sie entwickelte sie ihr erstes Spiel, und damit ihre eigene Berufung. Sie brachte sich zunächst Stencyl, dann Flash bei, und kreierte – laut eigener Aussage – „die albernsten Point & Clicks ever“. Wie andere Indie-Devs baute sie langsam eine eigene Community auf – bis ein Projekt alles verändert hat. Ihr erstes, größeres Spiel kam unter dem Namen „Depression Quest“ um 2013 auf Steam’s Greenlight-Programm in den Blick der Öffentlichkeit, und die Tweets, Emails und Telefonanrufe fingen an: „Ich habe dein Spiel auf Greenlight gesehen und ich hoffe, du bringst dich um“.

Das Benzin über diesem zündelnden Streichholz kam in Form eines auf 4Chan und 8chan gespiegelten Blogposts ihres Exfreunds, Eron Gjoni, der andeutete, das sie ihn nicht nur sieben Mal betrogen hätte, sondern einer dieser Männer Nathan Grayson gewesen wäre, ein Redakteur der Games-Newssite Kotaku. Der Post befürwortete alles, was einige – männliche – Channer befürchteten: Die Spielepresse ist korrupt, Frauen schlafen mit Reviewern um gute Bewertungen abzusahnen. Dass Nathan Depression Quest niemals auch nur erwähnte, geschweige denn getestet hat, dass es in seinem einzigen Artikel, der Zoë überhaupt nennt, um die TV-Show Game Jam ging – all das spielte keine Rolle mehr. Das Streichholz brannte.

Anita Sarkeesian ist in Toronto aufgewachsen, die Stadt, die Zoë erst noch kennenlernen sollte, zog aber später nach Kalifornien. Dort studierte sie Kommunikationswissenschaften und verdiente sich 2010 den Master im Bereich Sozialpolitik. Seitdem ist sie als Medienkritikerin und Videobloggerin für ihre selbstgegründete Plattform FeministFrequency.com tätig. Sie beschäftigt sich mit der Betrachtung und Analyse der Darstellung von Frauen in der Popkultur, insbesondere, und für diese Geschichte am relevantesten, Videospielen. Nachdem Anita 2012 das Kickstarter-Projekt „Tropes vs. Women in Video Games“ startet, ein neues Kapitel ihrer „Tropes vs.“-Reihe, wird das Gaming-Internet auf sie aufmerksam. Bereits kurz nach Bekanntwerden des Projektes erhält Anita Vergewaltigungs- und Todesandrohungen und kann nur zusehen, als ihre Webseite und Social Media-Accounts gehackt werden.

#Games und Lügen

Wenn die Aktionen gegen Anita Sarkeesian, die es wagte, trotz ihres nicht gerade gamingaffinen Hintergrundes über Probleme der Spieleindustrie zu sprechen, die in Zusammenhang mit ihrer Arbeit als Medienkritikerin stehen, der warmlaufende Motor des GamerGate-Movements waren, war der Hagel von Hass gegen Zoë Quinn die Zündung.

8Chan und einige weitere Plattformen zwangen diese Vorfälle in einen Zusammenhang, der nie bestand – GamerGate nahm seinen Anfang. Weitere – natürlich weibliche – Entwickler und Personen der Gaming-Szene wurden als Ziele markiert, insbesondere Brianna Wu, die Aktionisten der GamerGate-Bewegung auf Twitter als lächerlich kommentierte: „Sie bekämpfen eine apokalyptische Zukunft in der Frauen 8 Prozent des Anteils an Programmierern ausmachen und nicht 3 Prozent“. Für diesen Tweet erntete sie ebenfalls zahllose Drohungen von Mord und Vergewaltigung, Fotos brutal getöteter Tiere und Drohungen, die auch ihre persönliche Adresse beinhalteten. Brianna musste ihr Zuhause verlassen und ein neues Leben aufbauen.

Während all dieser Zeit etablierte die selbsternannte „Führung“ der eigentlich führungslosen Bewegung sowohl das eigenlich von Zoë Quinn genutzte Hashtag #thequinnspiracy in Hassbotschaften, Drohungen und Kommentaren, als auch das Tag #burgersandfries, entstanden aus dem Namen des IRC-Channels, in dem die Aktivitäten der Bewegung gezielt und geplant wurden.

Dort entstand auch die Idee, mit der Erscheinung des „Zoe-Posts“, des Blogbeitrags Graysons, eine selbsternannte Position „gegen Korruption und für Ethik in Videospieljournalismus“ einzunehmen – eine Lüge, die von Start weg über die gesamte Geschichte der Bewegung propagiert wurde. Diese Codebezeichnung sollte sich als geniale Idee der aus 8Chan gesteuerten Führung dieser Aktionen herausstellen, um nicht nur die eigenen Ziele zu verwischen, sondern auch eigentlich völlig unbefangene Videospieler, denen eigentlich die besagten Fälle nicht egaler sein könnten, in den Zirkel der noch offiziell namenlosen Bewegung zu ziehen. #GamerGate, das Hashtag, welches zum tatsächlichen Symbol dieser gezielten Hassaktionen unter dem Tarnmantel der sozialpolitischen Progressiven werden sollte, entstand aus einem Tweet des Schauspielers Adam Baldwin, der #burgersandfries-Videos mit dem Hashtag #GamerGate (als Anspielung auf Watergate) retweetete.

Auch die zukünftigen Hassaktionen konnten so mit der Gamer-Welt in Einklang gebracht werden – alles, was zu tun war, war lediglich sämtliche Aktionen direkt oder indirekt mit dem Thema „Gaming“ in Verbindung zu bringen. So konnte man sicher sein, dass das selbstgestrickte Image passen würde, und dass echte Gamer mit auf den Zug aufspringen würden. Denn wer möchte schon, dass sein Hobby von korrupten Geschäftemachern und unwissenden Feministinnen hinterrücks boykottiert wird? Die potentielle eigene „Armee“ erweiterte sich so schlagartig um ein Vielfaches, und Aktionen wirken auch für Neueinsteiger wesentlich einladender als das viel durchsichtigere, echte Ziel „Frauen, Feministen und Progressivismus“.

SJW als Angriffsfläche


Nun beheimatet auf 8Chan, 4Chan sowie Reddit, erweiterte sich der Opferkreis von GamerGate: Neben Spielentwicklerinnen und Feministinnen, die sich offen gegen #GamerGate aussprachen, wurden nun jegliche – nach wie vor hauptsächlich weibliche – Personen angegangen, die eine öffentliche Kontrameinung zur Bewegung hatten. Tatsächliche Aktionen, die zur Eindämmung von Problemen der „Ethik im Videospielejournalismus“ führen könnten, hielten sich selbstverständlich in sehr engen Grenzen. Aber: Mit der steigernden Bekanntheit der Bewegung nahmen mehr und mehr Seiten und Communities die Gefahr ernst und kritisierten Aktionen und Verhalten von GamerGate. Diese Umstände – und die Gefahr, ihr gelegtes Feuer ausbrennen zu sehen – führten zu einer erneuten Erweiterung des Feindbildes: „Political Correctness“, also aus GamerGate’s Sicht jegliche Meinungen, die Frauen, Feminismus und Minderheiten im sozialen Kampf unterstützen, wurde zum Gegner erklärt, und mit ihr die sogenannten „Social Justice Warriors“, die imaginäre Armee, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Rechte und Menschenwürde der eigentlichen Feindbilder und sozial progressive Ansichten zu verteidigen. Der eigentliche Begriff ist im späten zwanzigsten Jahrhundert als durchaus positiver bis neutraler Ausdruck entstanden für das, was er auch aussagt: Eine Person, die sich durch Aktivismus für Soziale Gerechtigkeit einsetzt. Erst mit Twitter – oder genauer – mit Gamergate hat der Begriff seine heutige, allgemein geläufige Identifikation einer Beleidigung erhalten.

Da auch hartnäckigen GamerGate-Anhängern auffiel, dass soziale Gerechtigkeit eigentlich nicht gerade zum Hass einlädt, wurde das Image dieser – freilich von GamerGate selbst erfundenen „Gruppierung“ – nach eigenem Ermessen karikiert. Ein SJW wird bebildert als ewig schreiender, krittelnder und sich beschwerender Witz, der seine Ansichten zwar lauthals auf Twitter bekräftigt, aber eigentlich nur ein ganz kleines Lichtlein ist. Er ist der nicht enden wollende Gegner, der durch „sachliche Argumentation“ und „Fakten“ – egal ob wahr oder nicht – der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Die eigentlichen Aussagen der „SJW“, also der wortwörtliche „Kampf“ um soziale Gerechtigkeit, werden in dieser „sachlichen Argumentation“ meist ignoriert, stattdessen wird an Punkten angegriffen, die der Verlächerlichung geeignet sind. Es wird impliziert, dass der SJW nur die persönliche Validierung sucht, seine Argumente unehrlich sind und nur dazu gedacht, Diskussion der Diskussion wegen aufrechtzuerhalten. So lassen sich einfach jegliche, eigentlich sinnhafte Punkte eines potentiellen Diskussionsgegners zerfasern und verlächerlichen. Ein SJW ist keine echte Menschengruppe, keine echte Kategorie. Die Bezeichnung ist lediglich ein einfacher Weg, jeden zu diskreditieren und letztendlich zu ignorieren, der soziale Gerechtigkeit diskutiert. Sie klassifiziert jeden potentiellen Widerstand als bloße Parodie und befreit von jeglicher Selbstkritik, anstatt einer eigentlich substantiellen Meinung Wert zuzuschreiben.

Das Problem mit „SJW“

Das Problem ist: Soziale Gerechtigkeit ist kein Gag. Wir kommen um ein Stellen der Waagschale nicht herum, wenn wir wirklich eine faire Welt möchten. Feminismus ist wichtig. Ein Stoppen der Deklassifizierung von Minderheiten ist wichtig. Das Verständnis, dass Frauen die gleichen Rechte haben wie Männer, dass dunkelhäutige Menschen die gleichen Chancen und Voraussetzungen haben wie hellhäutige, dass schwule Männer und lesbische Frauen ebenso normal sind wie Heteros, ist wichtig. Das ist, was Social Justice Warriors wollen. Das ist, was GamerGate und ahnungslose oder ignorante Gamer mit dieser Bezeichnung bekämpfen. Keine Feministin will irgendjemandem seine Videogames wegnehmen, kein Entwickler will durch „erzwungene Diversität“ den „weißen Cis-Mann“ vom Gaming abhalten.

Ja, es gibt heutzutage mehr weibliche Hauptdarsteller in Games, Kino und TV. Ja, eine höhere Rate an homo- oder transsexuellen Menschen in Medien ist wünschenswert. All diese Leute gibt es wirklich, und all diese Leute verdienen es, nach Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten der Unterdrückung, Lächerlichkeit und gewaltsamen Entfernung aus der Gesellschaft, in einem Bruchteil der täglich erscheinenden Medienwelt eine Hauptrolle einzunehmen. Und im Gegensatz zu den Aktionen von GamerGate geschieht dies nicht durch Hassmails, Todes- und Vergewaltigungsdrohungen und Beschimpfungen, sondern nur durch Arbeit am Status Quo.

Das will ein SJW, und darum lasse ich mich gern so bezeichnen. Soziale Gerechtigkeit ist etwas gutes, und ich glaube daran. Und vielleicht – hoffentlich – überlegt sich der Anti-SJW-Teil der Leser dieses Artikels, ob er wirklich Feministinnen, Frauen und Transleute so sehr hasst, dass er sowohl sie als auch ihre Unterstützer beleidigt und aktiv bekämpft, ob beabsichtigt oder nicht. Ich habe noch Hoffnung.


Photos by Lucas Ortiz, Kal Visuals, Giantbomb.com