#KeepGamingFantasy
Mit Stift und Papier zum neuen GamerGate-Hashtag
Im Juni 2021 gab Ernie Gygax, seines Zeichens Sohn von Gary Gygax, ein Interview, und dieses Interview war der Auslöser für eine vergleichsweise kurze, aber immens aufsehenerregende Geschichte in der modernen Pen & Paper-Welt. Um dem ganzen Artikel ein wenig Kontext zu geben, gibt’s erstmal einen kurzen, historischen Abriss um Gary Gygax, Ernie Gygax und die Firma TSR.
Gary, verstoben in 2008, war der Vater des Pen&Paper-Rollenspiels „Dungeons & Dragons“, und allgemeinhin vielleicht auch der Mensch, der Pen&Paper überhaupt erst ins Rampenlicht gerückt hat. Nachdem er wortwörtlich als Schuhmacher im eigenen Keller etwas Geld zusammengespart hatte, erfand er usammen mit Jeff Perren, einem weiteren Spieldesigner, um 1960 herum das Spiel „Chainmail“, aus dem später das weltbekannte „Dungeons & Dragons“ hervorging.


Später gründete er die Lake Geneva Tactical Studies Association, eine Brettspielgruppe, und daraus entwickelte sich TSR, „Tactical Studies Rules“, die Firma, unter der Gygax, Perren und Ihre Spielegruppe im Jahr 1973 die erste Edition von „Dungeons & Dragons“ für den amerikanischen Markt herausbrachte. Bis zu seinem Tode war Gary ein Pen & Paper-Rollenspieler und -Erschaffer, und es gibt kaum eine wichtigere Person in der Geschichte der westlichen Rollenspiele als ihn.
Gary hatte fünf Kinder, Ernest ("Ernie"), Lucion, Heidi, Cindy und Elise. Hier und heute geht es hauptsächlich um Ernie Gygax, um TSR und um ein komplett verschloddertes Erbe.
TSR: Das Pen&Paper-Gamergate von 2021
TSR – der Firma – wurde das Leben nicht einfach gemacht. Trotz des anfänglichen Erfolges und einer rosigen Zukunft in Aussicht, verschuldete sich TSR in den Achtzigern. Zwei der Investoren, Brian und Melvin Blume, verkauften ihre Anteile an Vizepräsidentin Lorraine Williams, die sich dann 1985 darum kümmerte, Gygax aus der Firma zu kicken. TSR, mittlerweile als TSR, Inc, erholte sich wieder etwas, doch in den Neunzigern sind sie klar hinter der mittlerweile zahlreichen Konkurrenz zurückgeblieben und sahen der Insolvenz ins Gesicht. 1997 wurde TSR von Wizards of the Coast aufgekauft, den Herstellern von Magic The Gathering und anderen Fantasy-Games, und der Name TSR wurde zum Start der dritten Edition D&D im Jahre 2000 fallengelassen.
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Bitte habt Verständnis, dass diese „Vorgeschichte“ nur eine stark gekürzte Version der Ereignisse ist – das Leben von TSR und Gygax ist vermutlich die Grundlage für viele, viele Essays und Abhandlungen, aber für diesen Zweck sollte die Kurzfassung reichen.
Nach dem Aufkauf der Firma und dem Start von D&D 3rd Edition erlaubte WotC das reguläre Auslaufen der Trademark „TSR“, da sie es nicht mehr benötigten, und zwei neue Firmen zeigten starkes Interesse.
Jayson Elliot, Mitbegründer des „Roll for Initiative“ D&D/Rollenspielpodcasts fand heraus, dass die Trademark seit 2004 nach wie vor ungenutzt herumliegt, also registrierte er sie in 2011 sofort, auch wenn er noch nicht so recht wusste, was er damit tun sollte. Die Entscheidung fiel auf eine Game-Firma, die ihre ersten Jahre damit zubrachte, ein neues Magazin auf den Markt zu werfen: „Gygax Magazine“ wurde im Dezember 2012 zusammen mit der „neuen“ TSR angekündigt. Luke und Ernie Gygax schrieben für das Magazin, aber verließen die Firma in 2016, als „Gygax Magazine“ beendet war und TSR Games, wie es mittlerweile hieß, das erste eigene Rollenspiel herausbrachte: „Top Secret: New World Order“.
Ernie Gygax hatte jedoch andere Pläne. Im Juni 2021 gründete er in Lake Geneva, Wisconsin offiziell eine neue, seperate Firma namens TSR. Sein Plan: Eigene Rollenspiele, und das „Dungeon Hobby Shop Museum“, welches im alten Bürogebäude der ersten TSR aufgezogen wurde.

Ernie Gygax

Jayson Elliot

Wie nun konnte Gygax eine Firma mit gleichem Namen gründen? Elliot’s TSR Games gab auf Twitter zu, dass sie zwar die Trademark seit 2011 besessen haben, aber ein jährliches Einreichungsdatum im Jahr 2020 schlicht vergessen haben. Diese Chance nutzte Ernie Gygax, um sich die Trademark zu schnappen. Elliot’s TSR verkündete inzwischen die Überlegung, vor Gericht zu ziehen, um den Namen offiziell wieder auf ihre Seite zu bekommen. So gab es seit der offiziellen Namensregistrierung von Gygax’s TSR 2021 zwei komplett unterschiedliche Firmen namens TSR sowohl hinter, als auch vor den Kulissen, die zwar beide nur am Rande mit dem Original zu tun hatten, aber ebenfalls beide im Rollenspielgeschäft große Pläne hatten.
Da es nun etwas kompliziert wird, wenn es um drei verschiedene Firmen namens „TSR“ geht, werde ich die Firmen folgendermaßen benennen:
TSR Classic: Das alte, von Gary Gygax gegründete TSR
TSErnie: Das von Ernie Gygax gegründete TSR
TSR Elliot: Das von Jayson Elliot gegründete TSR
Und jetzt – endlich – geht es in der aktuellen Gegenwart dieses Textes weiter.
TSR Elliot bekräftigte, dass die Marke „TSR Games“ ihnen durch zu späten Papierkram genommen wurde, und nicht die finanziellen Mittel hätten, diesem Problem gerichtlich nachzugehen. Zwar haben sie mit dem Verlust nicht den gerichtlichen Schutz der Marke verloren, aber ein gerichtliches Vorgehen würde Verhandlungen und Juristen und Anwälte erfordern, und für einen kleinen RPG Publisher ist dies einfach viel zu teuer. TSErnie stimmte zu, die Trademark für 10$ pro Jahr an Elliot auszuweiten, damit beide unter dem Namen TSR firmieren können.
Am 23. Juni 2021 führte Youtube-Channel SciFi4Me ein Interview mit Ernie Gygax, in dem er über weitschweifende Pläne von TSErnie in der Spielebranche sprach, aber auch einige Kommentare fallen ließ, die so gar nicht politisch korrekt waren. Dies war aber – zumindest augenscheinlich – durchaus beabsichtigt, da der Social Media-Account von TSErnie schon zuvor mit einigen fragwürdigen Posts aufgefallen war.

Das Interview ist nach wie vor verfügbar, und wer möchte, kann es jederzeit anschauen. Ernie’s Art und Weise, seine Sicht der Dinge zu schildern ist.. aggressiv. Er baut absichtlich völlig überzogene Vergleiche und Konfrontationen ein, lacht viel, aber selten humorvoll, und es ist allgemein – zumindest aus meiner Sicht – sehr unangenehm, ihm bei seinen Tiraden zuzuhören.
Zum Thema Lorraine Williams und dem originalen TSR hatte er beispielsweise den Vergleich zu Räubern parat, die Schätze ausgraben und behalten. Oder den Vergleich der, Zitat, „Amerikanischen Indianer, die das gleiche taten, sie, äh, haben andere Stämme viele Male ausgerottet um ihre Frauen und Kinder zu nehmen, und alles andere umzubringen und dann zu gehen, damit der eigene Stamm besser dran ist und wachsen kann“.
Ebenso plant er seine aktuelle Firma für – erneutes Zitat – „Eine Tonne von Künstlern und Designern und Spielern, die in letzter Zeit beschimpft werden dafür, dass sie altmodisch sind, möglicherweise anti-modernen Trends folgen oder das Konzept von zwei Genderidentitäten haben“, abgeschlossen mit einem süffisanten Lachen.
Ein kürzlicher Post von Wizards, zum Pride Month im Juni wurde diskutiert als „ein Versuch (seitens WotC), sich von Ethik und Stil des spielens zu trennen, der in den Ursprüngen des Spieles vorhanden war. Sie wollen nur sagen „Wir sind eine bessere Firma und bessere Menschen“ als die, die damals angefangen haben zu spielen. Sie wollen Teil der neuen Welle sein, der Horde Lemminge, oh ja“.
Nach den wenig erbaulichen Reaktionen auf dieses Interview von seiten der sozialen Medien und einschlägigen Rollenspiel-Seiten sah sich TSErnie zu einem Twitter-Statement gezwungen.
TSErnie stellte klar, dass Ernie „kein corporate Typ“ ist – obwohl er natürlich den Vizepräsidenten der Firma darstellt – und seine Meinungen nur seine eigenen, persönlichen wären. Der Post wurde kurz danach entfernt.
Später folgten weitere Posts, die allerdings sehr „Both Sides“-ig klangen, während gleichzeitig Kritiker seines Interviews belästigt oder geblockt wurden, und mit diesen Twitter Posts wurde nahezu zu jeder Gelegenheit das neu entworfene Hashtag #KeepGamingFantasy gepusht.
„Keep Gaming Fantasy“ ist ein Aufruf – und wer bei GamerGate mitgelesen hat, wird sich böse erinnert fühlen – „Politik aus Rollenspielen fernzuhalten“.
Und wenn ich schreibe „Politik“, dann meine ich natürlich den ganz normalen, sozialen Fortschritt: Genderidentitäten, Talk über Rassismusprobleme oder Frauenfeindlichkeit, den alltäglichen, sozial- und gesellschaftspolitischen Fortschritt, der von den üblichen Verdächtigen gern als „Politik“ über den hartborstigen Kamm geschert wird.
„In der hyper-polarisierten Kultur von heute haben wir eine strenge Verpflichtung dass Gaming Fantasy bleibt“, so der offizielle Leitsatz des Hashtags. „KeepGamingFantasy“ wurde selbstverständlich von den bereits GamerGate-geübten Capital-G-Gamern, die natürlich auch in der Rollenspielszene anwesend sind, bereitwillig aufgenommen und schnell verbreitet.
TSR Elliot reagierte ebenso schnell und sendete Statements die ohne Raum für Interpretation ihren Support für LGBTQ-Rechte, Frauen und Racial Justice klarstellten, um sich so weit es eben ging von TSErnie abzugrenzen. Auch die Veranstalter der „GaryCon“ – einer Convention, die in Erinnerung an Gary Gygax organisiert wurde – und einige Creator die an Produkten für TSErnie arbeiteten, haben ähnliche Statements abgegeben. Es gab jedoch Ausnahmen.

TSErnie hatte zwei Spiele angekündigt: Giantlands, ein Kickstarter P&P, und Star Frontiers, ein Reboot eines alten TSR Original-Spieles, das ursprünglich von „Evil Hat“ entwickelt werden sollte. Die Ersteller des ersteren fühlten sich gezwungen, vage zustimmende Posts zu den Aussagen von Ernie Gygax zu veröffentlichen, während die Macher von Star Frontiers beschäftigt waren, ihre eigenen transphoben Statements unter’s Volk zu bringen – der Wunsch der Fans nach einem unterstütztenden Post für Transrechte wurde als „widerlich“ abgetan.
Nach dem Interview startete TSErnie eine Serie von Tweets und Posts von ihren TSR Games-, Giantlands und Hobby Museum-Accounts, gegen die das Interview selbst fast harmlos wirkte. Die Posts vollführten die ganze, übliche Spanne von „ekelhaft“ gegenüber Transleuten zu „Es interessiert mich nicht ob du gay, ein Unitarier oder lila bist“ – eine weitere Variante des allseits beliebten „Attack Helicopters“, um eine Identität zu verlächerlichen.
GenCon, eine der weltweit größten Tabletop-Gaming-Conventions, stellte deutlich klar, dass sie TSErnie’s Statements nicht unterstützen, und die Firma auf der Con nicht mehr willkommen ist.
GAMA, die „Game Manufacturers Association, hat sich ebenfalls distanziert mit dem Motto „Ein Spiel an jedem Tisch, ein Tisch für alle“, und TSR ebenfalls von ihrer Origins Game Fair, der GAMA Expo und allen weiteren Events ausgeschlossen.
Jim Ward, der Schreiber von „Giantlands“ distanzierte sich auch von Gygax, selbst sein Bruder Luke machte deutlich, dass weder er, noch irgendein anderes Mitglied der Famlie mit TSR etwas zu tun habe, und verurteilte Ernie – Zitat – „einen schnellen Griff nach Geld aus Nostalgie aus dem Namen seines Vaters zu machen, und nicht viel mehr sonst“.
Tim Kask, einer der Mitarbeiter im originalen TSR, hat ausschweifend auf seinem Youtube Channel über die Situation gesprochen und dabei kein Blatt vor dem Mund genommen. „Nein, wir sind nicht alle so gewesen, und wir sind es auch heute nicht. Er ist ein Troll, ein Neandertaler.“ „Nur weil du sagst, du wärst „TSR“, bedeutet es noch lang nicht, dass du es auch bist“.
Justin LeNasa, Präsident von TSErnie, forderte die Fan-Facebook-Gruppe „Old School TSR Players“ auf, ihr „No more new TSR“-Artwork nach dem Interview zu entfernen, „oder sonst..“. Der Besitzer der Gruppe teilte ihm mit, nicht mehr auf künftige Drohungen zu reagieren, und dass die Gruppe sich nicht einschüchtern ließe.
TSR Elliot benannte sich nach diesem ganzen Fiasko in „Solarian Games“ um, um nichts mehr mit dem Namen „TSR“ zu tun zu haben, und stellte ein weiteres Mal klar, nicht mit TSErnie zusammenarbeiten zu wollen.
TSErnie, um sich dem eigens produzierten Aufhebens zu entziehen, hab sich inzwischen ebenfalls umbenannt – offiziell in Wonderfilled, Inc, oder Wonderfiled, Inc. Auf der eigenen Homepage ist der Name auf unterschiedliche Arten geschrieben, also wer weiß das schon.

Und was jetzt? TSR als Firma ist – mal wieder – tot. Ob Ernie’s neue Firma Wonderfiled (Oder ist es doch „Wonderfield“?) nach dieser Aktion aufblüht oder eingeht, muss abgewartet werden. Solarian Games veröffentlicht weiterhin Top Secret: New World Order und weitere Games auf solariangames.com. Neben all diesen Folgen ist die Hashtag-Kampagne #KeepGamingFantasy hingegen erfolgreich in die Welt gesetzt worden, und wird auch zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels fröhlich weitergenutzt, um es den politisch korrekten SJWs zu zeigen.
„Keep Gaming Fantasy“, also „Lass Gaming eine Fantasie bleiben”, behauptet, dass Spiele keinerlei Verbindung zur Realität haben. Es ist ein Appell, das Fantasiespiel von der realen und alltäglichen Welt abzuschneiden, und einem Raum ohne dessen banale Sorgen zu betreten. Aber ist dies wirklich, was Fantasy ist? Ist Fantasy nicht erst dann wirklich beeindruckend, wenn sie den Vergleich zur realen Welt zeigt? Konzepte von Anführern, Kriegern, Gut und Böse, Magie, Leben und Tot stammen allesamt aus der realen Welt, sie werden in der Fantasy nur neu interpretiert. Fantasy als komplett leeres Genre, ohne jeglichen Bezug zur gewohnten Realität, funktioniert nicht. In ein Fantasy-Setting fliehen bedeutet nicht, der Realität zu entfliehen, es ist in jeder Beziehung das, was wir gerne wären, was wir in unseren kühnsten Träumen sein wollen. Ein mächtiger Magier, ein starker Krieger, der für sich und seine Freunde eintritt.
Der Ruf danach, Gaming eine Fantasie sein zu lassen, ist nicht mehr als ein Selbstschutz vor anderen Einflüssen, Meinungen oder Identitäten, mit denen man nicht umgehen kann oder will. Doch all diese Einflüsse und Meinungen, Identitäten und Persönlichkeiten, waren auch (oder gerade) in Pen&Paper immer vorhanden – sei es durch die Autoren, sei es durch die Game Master oder Spieler, die Künstler und Texter, Autoren und selbst Verlage.
„Keep Gaming Fantasy“ ist – wie andere Hashtags in dieser Richtung – nicht nur der Ruf nach Erlaubnis, die Augen zuhalten zu dürfen, sondern auch der Befehl an alle anderen, ebenfalls den eigenen Vorlieben und Vorurteilen zu gehorchen, ohne die Sichtweise eben dieser Anderen überhaupt in Betracht zu ziehen.
Es ist egoistisch und zerstörerisch, und hat im Rollenspiel – ausgerechnet im Rollenspiel – nichts zu suchen.
Und vielleicht öffnet diese Tatsache mehr Augen, anstatt sie zu verschließen.
Vielleicht ist diese ganze Aktion am Ende notwendig, um auch in der RPG-Szene allgemein einiges zu bewegen, wie es auch bei den Nachbarn "Videogames" der Fall war und ist.
Orks und Goblins als Bösewichter haben nach wie vor Bildsprachen, die manchmal frappierend an diverse Minority-Gruppen angelehnt sind. Frauen mit Schwert und Schild sind immer noch selten ohne Bikini-Rüstung unterwegs, wenn sie nicht irgendwo zur Rettung bereit angekettet sind. Eine Charaktererstellung, die offen und ohne Haken Trans-Charaktere erlaubt, ist weiterhin selten. Mal sehen, was sich tut.
Viele Hobby- oder Indie-Rollenspiele, wie man sie beispielsweise zuhauf auf itch.io findet, zeigen bereits, dass es besser geht – die großen Verlage können aber durchaus noch nachziehen.